Leseproben    


Was passiert da eigentlich gerade? Eine Erinnerung an 2020

Das Jahr 2019 lag in den letzten Zügen, alle bereiteten sich auf den Jahreswechsel vor, kleine oder größere Feiern wurden organisiert, als eine von der Bevölkerung fast unbeachtete Meldung eintraf: China meldet an die WHO (Weltgesundheitsorganisation), dass offensichtlich ein Virus von einem Tier auf einen Menschen übergesprungen ist. Was soll das, China ist weit weg und alle bisherigen derartigen Ausbrüche waren an Europa vorbeigezogen: Ebola wütete in Afrika, SARS stammte auch aus China, wirkte bedrohlich, verlief aber im Sande, verschwand so unspektakulär wie es spektakulär aufgetaucht war.  

Das Neue soll auch ein Corona-Virus sein, hieß es ein paar Tage später und von einer Hand voll Betroffener war die Rede. Jahreswechsel, klar, politisch und wirtschaftlich passiert jetzt nicht viel, da müssen die Nachrichtenagenturen nach Meldungen suchen, da kommt so ein winziger Virus gerade Recht. Als aber am 11. Januar 2020 der erste Tote gemeldet wurde, hielt man kurz inne, der Arme, aber das Leben geht weiter. So richtig erschrocken waren wir, als Paris am 24.Januar drei Corona-Tote vermeldet und drei Tage später in Bayern ein Infizierter erkannt wurde, ein Rückkehrer aus China. Es stellt sich schnell heraus, dass dieser Mensch schon einige andere in seinem Umfeld infiziert hat.  

30. Januar: Die WHO erklärt eine internationale gesundheitliche Notlage, eine Lage, die kurz vor der Pandemie angesiedelt ist.
Einen Tag später werden 100 Deutsche aus der Provinz Wuhan/China ausgeflogen, alle kommen für zwei Wochen in Quarantäne, zwei sind infiziert.  

Endlich, am 11. Februar 2020 bekommt der Virus seinen Namen, er heißt Sars-CoV-2, die von ihm ausgelöste Erkrankung Covid-19. Gut, das auch das geklärt ist.  

Als wollte dieser Virus seine Macht beweisen, meldet die Volksrepublik China den 1000ten Toten!
Italien sucht verzweifelt und vergebens den sogenannten 1. Patienten, denn die Zahl der Infizierten steigt rasant. Am 23. Februar riegelt Italien einige Städte im Norden des Landes ab.
Während man annehmen kann, dass Bayern die Situation im Griff hat, werden am 25.02. aus NRW, besonders den Städtchen Heinsberg und Gangelt eine Vielzahl von Infizierten gemeldet. Eine oder mehrere Karneval-Veranstaltungen, die ein Virusträger besucht hatte sind die Verbreiter. Schulen in den betroffenen Orten werden geschlossen.  

Am 4. März schließt Italien alle Schulen, Hochschulen und Kindergärten.  

Zwei Tage später, am 6. März sind in Deutschland mehr wie 500 Menschen angesteckt. War bisher die Gefahr mehr oder weniger abstrakt, werden ab jetzt die Meldungen intensiver verfolgt. Am 9. März sterben zwei Betroffene in Deutschland, einen Tag später werden Großveranstaltungen verboten, zuvor, am 7. März vereinten sich allein im Bundesligaspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund fast 54.000 Zuschauer!  

Ab jetzt verdichteten sich die Ereignisse:
Am 11. März findet ein sogenanntes Geisterspiel statt zwischen Mönchengladbach und Herta BSC Berlin, ein Nachholspiel ohne Zuschauer.
Am 12. März verbietet Präsident Trump aus USA Einwohnern aus der EU die Einreise in die USA.
Am 13. März verkündet die Fußballliga die vorläufige Einstellung des Spielbetriebes.  

Machen wir einen Sprung zum 22. März 2020, zwei Tage nach dem Frühlingsanfang. Das Robert-Koch-Institut meldet für Deutschland bisher:
18.610 Infizierte, das sind 1948 mehr als am Vortrag und
55 Tote
Später muss das Institut Fehler eingestehen, ein anderes Unternehmen hat zum gleichen Zeitpunkt schon weit über 20.000 Infizierte registriert.  

Am frühen Abend spricht die Bundeskanzlerin zur Nation. Frau Merkel verkündigt neun Verhaltensregeln, die im Wesentlichen auf die Reduzierung von Kontakten zielen:  

1.     Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.  

2.     In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den unter 1. genannten Personen ein Mindestabstand von mindestens 1,5 Metern einzuhalten.  

3.     Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstandes gestattet.  

4.     Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe, Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Prüfungen, Hilfe für andere oder individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben selbstverständlich weiter möglich.  

5.     Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen sind angesichts der ernsten Lage in unserem Land inakzeptabel. Verstöße gegen die Kontakt-Beschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden.  

6.     Gastronomiebetriebe werden geschlossen. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung mitnahmefähiger Speisen für den Verzehr zu Hause.  

7.     Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wie Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe werden geschlossen, weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist. Medizinisch notwendige Behandlungen bleiben weiter möglich.  

8.      In allen Betrieben und insbesondere solchen mit Publikumsverkehr ist es wichtig, die Hygienevorschriften einzuhalten und wirksame Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Besucher umzusetzen.  

9.     Diese Maßnahmen sollen eine Geltungsdauer von mindestens zwei Wochen haben.   

Am 23. März veröffentlicht das Robert-Koch-Institut folgende Zahlen:  

22.672 Infizierte
das sind 4062 mehr als am Vortag, wobei am Wochenende die Zahlen nicht verlässlich waren.
gestorben sind bisher 86 an Covid-19  

Am Morgen, kurz nach acht Uhr war weder bei REWE noch bei DM Toilettenpapier zu bekommen, leere Regale gähnen die Kunden an. Ärgerlich, jetzt sind die die Dummen, die nicht rücksichtslos gebunkert haben. Nicht genug, dass sie kein Toilettenpapier bekommen, nein, sie setzen sich bei der Jagd nach dem begehrten Produkt von einem Supermarkt zum anderen noch einer erhöhten Ansteckungsgefahr aus.  

Gut, dass es (noch) keine generelle Ausgangssperre gibt, hier im Wald waren noch nie so viele Menschen unterwegs wie jetzt, sie haben Zeit, denn viele Firmen haben ihre Produktion eingestellt, alle Geschäfte, die nicht für den täglichen Bedarf anbieten, sind geschlossen.  

24. März

27.436 Infizierte
4764 mehr
114 Tote  

Sind die Daten plausibel? Dann hätte sich die Zahl der neu Infizierten nur mäßig erhöht und nicht wie bisher von Tag zu Tag verdoppelt.  

Das IOC, das Internationale Olympische Committee erkennt und akzeptiert endlich die Situation und verkündet in Absprache mit dem Ausrichter Tokio in Japan die Verschiebung der Spiele in das Jahr 2021!


25. März

31.554 Infizierte
4.191 mehr
149 Tote  

Der Bundestag stimmt einem riesigen Hilfspaket zu, Firmen, Mieter, Beschäftigte, allen die unter Corona finanziell leiden müssen, soll geholfen werden.               26. März

                       36.508 Infizierte
                       4.954 mehr
                       198 Tote             

Nach wie vor und trotz aller Anstrengungen mit Quarantäne u.ä. ist Italien das von der Krise am schlimmsten betroffene Land Europas, Spanien und die Schweiz holen allerdings mächtig auf. China kehrt zum größten Teil wieder ins normale Leben zurück, nachdem die strikten Maßnahmen wie Ausgangssperre mit Kameraüberwachung angeblich gewirkt hätten. Es gäben keine internen Ansteckungen mehr.
Nach wie vor ist Toilettenpapier Mangelware, der Absatz ist bis zu 600 % erhöht, gegenüber normalen Zeiten. Daran sieht man ganz deutlich, dass es in der Krise eine große Anzahl an Arschlöchern in diesem unserem Lande gibt! In Internet-Shops werden für einen Pack mit 16 Rollen 16 Euro verlangt, 1 €/Rolle! Lieferbar 28 April.   

27. März

                       42.288 Infiziert
                       5.780 mehr
                       253 Tote  

Wir haben bei DM heute eine Packung Toil.-Papier ergattern können.
Die USA sind neuer Tabellenführer in Sachen Ansteckung. Wohnmobilstellplätze sind gesperrt.               28. März

                       48.582 Infizierte
                       6.294 mehr
                       325 Tote  

Auf der Jagd nach Schutzbekleidung und Atemschutzmasken übertreffen sich die Länder und Staaten gegenseitig. Der entsprechende Markt ist zur Gelddruckmaschine geworden.
Das schöne Wetter verleitet viele dazu, die Kontaktsperre - sagen wir mal - großzügig auszulegen. Hoffentlich rächt sich das nicht. Im Wald treffe ich Leute, die sich überhaupt nicht bemühen, den größtmöglichen Abstand zu mir zu erzielen, sie gehen meist zu zweit nebeneinander her und dabei bleibt es. So beträgt der Begegnungsabstand oft weniger als ein Meter, der wenn die beiden für ein paar Sekunden hintereinander gingen, fast zwei Meter betragen würde.               29. März Sonntag

                       52.547 Infizierte
                       3.965 mehr
                       389 Tote               30. März

57.298 Infizierte
4.751 mehr
455 Tote   

31. März

           61.913 Infizierte
           4.615 mehr
           583 Tote   

01. April  

67.366 Infizierte
5.453 mehr
732 Tote   

 

02. April

           73.522 Infizierte
           6.156 mehr
           872 Tote
           140 Tote mehr   

03. April

           79.696 Infizierte
           6.174 mehr
           1.017 Tote
           145 mehr   

04. April

           85.778 Infizierte
           6.082 mehr
           1.158 Tote
           141 mehr  

Alle touristischen Ziele, Attraktionen und Einrichtungen sind geschlossen. Wohnmobile dürfen als solche nicht genutzt werden, ebenso wenig Zweitwohnsitze.
Die Stadt New York hat inzwischen mehr Infizierte wie Deutschland, der glorreiche Präsident der USA Donald Trump hat ja lange den Virus ignoriert und kleingeredet. Dann gab er Europa Schuld an der unkontrollierten Verbreitung und versprach seinen Mitbürgern, der Virus würde auf eine gut vorbereitete medizinische Infrastruktur treffen. Doch, viele Amerikaner haben keine Krankenversicherung und wollen oder können sich den Test auf den Virus nicht leisten. Plötzlich ist er sau-gefährlich und ebender Präsident prognostiziert den USA 200.000 bis 250.000 Tote!               
  

05. April Sonntag

                       91.714 Infizierte
                       5.936 mehr
                       1.342 Tote
                       184 Tote mehr   

06. April

           95.391 Infizierte
                       3.677 mehr
                       1.434 Tote
                       92 Tote mehr   

07. April            99.225 Infizierte
           3.834  mehr
           1.607 Tote
           173 Tote mehr  

           

08. April

           103.228 Infizierte
                       4.003 mehr
                       1.861 Tote
                       254 Tote mehr   

 

09.April

           108.202 Infizierte
                       4.974 mehr
                       2.107 Tote
                       246 Tote mehr   

Ende der Frühjahres-Chronologie


    

Ich, Corona                                                      Autor: Hans Vanselow

Ha, ist das ein Fest! Ich hätte nie gedacht, dass wir es schaffen, ja, dass es so einfach werden würde.
Aber ich sollte mich erst einmal vorstellen, die Menschen haben uns SARS-CoV-2 getauft und ich bin einer davon. Aber wie sie uns nennen ist mir egal. Unsere Vorfahren hatten sich auf kleine Lebewesen spezialisiert, Fledermäuse zum Beispiel, aber in deren Körpern lauerte eine massive Abwehr, wir hatten es schwer, sehr schwer, unseren Bestand zu halten. Dann bot sich einem Ur-Ur-Urahn die seltene Gelegenheit, einer dieser Zweibeiner, die sich selbst Menschen nennen, kam ihm sehr nahe und Uropa nutzte die Chance und sprang ihm in den Mund. Ein Schlaraffenland tat sich ihm auf, er konnte dort tun und lassen was er wollte, er konnte sich teilen und vermehren, ohne dass irgendjemand Notiz von ihm nahm. Jeder seiner Nachkommen trägt sein Erbe mit sich, er hat diesen neuen Wirt analysiert und die besten Besiedlungsgebiete erkundet. Seitdem folgen alle seine Nachkommen, also auch ich seinem Plan. Noch nie in der Geschichte unserer Gattung gab es eine erfolgreichere Eroberung neuer Lebensbereiche. Lustig ist, dass nicht wir für die Verbreitung unserer Spezies sorgen, nein, das tut unser Wirt für uns, indem er stoßweise jede Menge Luft ausstößt. Dabei werden viele von uns mitgerissen und bekommen so die Chance, einen neuen Menschen zu erobern. Meist gibt es genug Auswahl in erreichbarer Nähe. Meiner Sippe ist das schon viele Male gelungen und so konnten wir unseren Beitrag zu dem großen Ziel leisten, uns über den ganzen Globus zu verteilen und dadurch unbesiegbar zu werden.  

Einige von uns sind sogar mit Flugzeugen mitgeflogen, auf Schiffen gereist und haben Urlaubsorte besucht. Paradiesische Zustände für uns, denn nirgendwo kommen sich unsere Opfer näher. So konnten wir nach Europa auch das noch fernere Amerika besuchen und uns unter den Wirten umtun. Unser nächstes Ziel wird Afrika sein. Obwohl es näher ist, ist es schwerer zu erreichen, weil die Reisemöglichkeiten dahin nicht so üppig zu finden sind. Dafür haben wir schon Australien erobert und das war gar nicht schwer. Aber auch Afrika schaffen wir, da bin ich mir ganz sicher und wenn wir erst einmal Fuß gefasst haben, wird es bestimmt ganz leicht sein, uns dort zu verbreiten. Aber soweit sind wir noch nicht.  

Bisher sind wir auf einem guten Weg. Am schönsten ist es bei kleinen Wirten, Kinder werden die von den Menschen genannt. Die stecken so gerne die Köpfe zusammen, da geht beim Überspringen kaum einer meiner Sippe verloren. Nur darf man nicht zu lange in so einem kleinen Wirt bleiben, das haben wir schnell gelernt, denn der Widerstand gegen uns wächst dort rasant an. Also heißt es, rechtzeitig den Absprung zu planen. Das ist dann aber auch ganz einfach, denn der neue Wirt holt uns in der Regel direkt ab. Beim Küssen, so nennen die Menschen das was sie da tun, können wir ganz lustig so oft wir wollen hin und her schwimmen.  

Neulich hatte ich das Glück, einen Verwandten aus einer anderen Sippe zu treffen. Das war sehr wichtig für mich, denn er gab mir einige wertvolle Tipps. Er und viele seiner Sippe waren viel weiter in ihren Wirt eingedrungen als sonst und sie fanden einen Platz, in dem sie beste Voraussetzungen vorfanden, um sich nach Herzenslust zu teilen, doch plötzlich gerieten sie selbst in große Not. Es wurde immer heißer, das war aber nicht so schlimm, gefährlich wurden die Abwehrzellen des Wirtes, die auf alles losgingen, was sie für einen Gegner hielten. „Die meisten von uns“, so erzählte er, „konnten sich leicht verstecken, denn die Abwehr erkannte uns nicht, aber durch das viele Kämpfen, teilweise kämpften sie sogar mit ihren eigenen Kollegen, wurde eine zähe Masse produziert, die uns das Leben schwer machte. An Teilen und Vermehren war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Ich war in diesem Schleim gefangen und wurde aus meinem Wirt geschwemmt. Fast wäre ich in einer silberglänzenden Schüssel gelandet, das wäre sicher mein Ende gewesen. Im letzten Augenblick konnte ich die Haut eines der Finger erwischen, die diese Schüssel hielten und mich daran festklammern und als der Finger einmal an die Nase geführt wurde, war mein Dasein gerettet und so bin ich jetzt hier.“  

War das eine spannende Geschichte und gleich fragte ich meinen Vetter, ob er mir nicht zeigen wolle, wo sich dieses Schlaraffenland befindet, doch das lehnte er kategorisch ab. „Höre, was ich dir sage“, begann er theatralisch „wie lautet der Auftrag unseres Ur-Ur-Urahn? Wir sollen uns vermehren und den Globus beherrschen.“ Er machte eine Pause und sah mich halb fragend und halb herausfordernd an und als ich mich nicht dazu äußerte, dozierte er weiter: „Du darfst nie das Ziel aus den Augen verlieren! Wir waren zu gierig gewesen, waren wie im Rausch und wollten zu viel. Anfangs fühlte sich das gut an, doch dann verloren wir unseren Wirt, er starb und fast alle aus meiner Sippe mit ihm. Nur ich konnte wie beschrieben entkommen und mit mir nur noch ein paar wenige. Wenn wir euch hier nicht getroffen hätten, wir wären nicht genug gewesen, um noch etwas zu erreichen. Glaub mir, es zahlt sich nicht aus, zu gierig zu sein.“  

Gerne hätte ich noch mehr vom Leben meines Vetters erfahren, doch ein plötzlicher Hustenanfall unseres Wirts riss ihn von mir weg. „Denke darüber nach!“, schrie er mir noch zu, bevor er im Rachen eines weiß gekleideten Menschen verschwand. „Gutes Teilen!“, rief ich ihm nach, doch das konnte er sicher schon nicht mehr hören.  

Wie sich herausstellte hatte mein Vetter Glück, dass er einen neuen Wirt fand. Viele von uns hatten das in letzter Zeit nicht mehr. Die Menschen halten sich plötzlich sehr weit voneinander entfernt auf, so dass ein Überspringen nur selten und schwer möglich ist. Man brauchte sehr viel Geduld und musste sich im Hintergrund halten, um nicht beim kleinsten Huster des Wirts ins Nirvana geschleudert zu werden.  

Und was sollte ich tun? Immer wieder schaute ich nach, ob sich ein neues Opfer in Reichweite befindet, aber nein, es war keines zu sehen. Ich dachte an meinen Vetter und seine Schilderung vom Schlaraffenland. Einerseits reizte es mich, es zu suchen, andererseits erinnerte ich mich immer wieder an seine Ermahnung, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ja, er hatte Recht, aber letztlich konnte er nicht sehen, wie ich mich gemeinsam mit einigen Freunden auf die Suche danach machte und er behielt Recht und auch das würde er nie erfahren.  

Unser Rausch im Schlaraffenland war außergewöhnlich und toll, das Erwachen daraus wird wahrscheinlich für mich tödlich enden. Alles ist voller Schleim, es kommt kaum noch Luft in seine Lungen. Unser Wirt hat unsere Orgie nicht vertragen und mit seinem Tod werde auch ich die Lebensgrundlage verlieren, aber manchmal geschehen auch Wunder und die Hoffnung, sagt man, stirbt zuletzt. Dennoch, ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn so wie es jetzt aussah, konnte ich nichts mehr zu dem großen Ziel beitragen, die Verbreitung über den gesamten Globus zu erreichen.  

Jetzt ist alles still, kein Röcheln und Pfeifen mehr. Ruhe!!  

Aber mein Geist ist wachsam noch - und wartet auf die - Totengräber


Bin ich?                                                     Autor:   Hans Vanselow

Wirre Schleierwolken wälzen sich vor meinen Augen – nein, das kann nicht sein, denn sie sind doch geschlossen, meine Augen. Wie können Schleier vor meinen Augen wabern, wenn sie doch zu sind. Oder doch nicht? Angestrengt versuche ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen.

Plötzlich drängt sich eine Frage durch mein beschäftigtes Gehirn, sie taucht auf und drängt sich dazwischen wie eine resolute Frau beim Einkauf in der Schlange vor einem Marktstand. Mein mit Schleiern bestens beschäftigter Denkapparat bekommt ohne jede Rücksicht ein weiteres Problem aufgedrückt: Es ist normalerweise keine allzu schwierige Frage aber diesmal bringt sie Unordnung in den Ablauf der Gedanken; die einfache Frage: Wo bin ich?
Warum liege ich hier und versuche krampfhaft, den Nebel in meinem Kopf zu durchdringen? Und jetzt kommt noch diese ‚wo bin ich-Frage‘ dazu.
Wieso nehme ich eigentlich an, dass ich liege? Wo bin ich – stehend, sitzend oder liegend? Vielleicht schwebe ich in einem mit seltsam waberndem Nebel gefüllten Raum?
Ich weiß nicht, was los ist mit meinen Augen. Sind sie auf oder zu? Sie zeigen mir immer das gleiche Bild, das was sie mir zeigen ändert sich nicht – oder, ändere ich nichts? Bewegen sich meine Lider überhaupt?

Meine Hände! Sie sollten mir doch mitteilen können, ob sich die Lider über den Augen, über meinen Augen bewegen. Also Arm anwinkeln und mit dem Zeigefinger vorsichtig an ein Auge tasten. Vorsichtig, es könnte ja offen sein und – nichts!
Nichts! Kein Auge! Oder – kein Finger? Hat sich mein Arm überhaupt bewegt? Habe ich überhaupt einen Arm? Existiere ich?
Wie soll ich feststellen, ob ich bin, wenn ich nicht weiß ob ich bin?! Zweifel oder Verzweiflung(?) quälen meinen Kopf. Wo liegt der Unterschied? Ich verzweifele an meinen Zweifeln.

Habe ich überhaupt noch Augen, Arme, Hände? Habe ich noch einen Körper?
Ich versuche zu denken. Aber was soll ich denken, wenn ich denke, dass ich denken sollte? Ich denke an meinen Körper. Gestern funktionierte er noch. Funktionierte er gestern noch? Gestern? Wann war gestern?
Gestern war! War bedeutet Vergangenheit.
Was bedeutet heute eigentlich gestern? Was bedeutet Vergangenheit – Gestern?
Dieses Wabern im Kopf, es macht mich verrückt. Macht mich verrückt? Bin ich es nicht längst, ohne Augen, Arme, Hände, ohne Körper, ohne – Kopf? Schwimmt mein Gehirn etwa in einer milchig grauen Brühe statt geschützt in einem, in meinem Kopf verankert zu sein?
Verrückt!? Was ist das eigentlich?
Ein Tisch, ein Tisch kann verrückt sein – verrückt worden sein, zur Seite geschoben, verrückt eben. Aber ein Gehirn, kann auch ein Gehirn verschoben sein, verrückt sein?

Denken, eigentlich will ich doch denken, mit meinen Gedanken irgendetwas fest halten, in meinem Gehirn irgendetwas festhalten, statt dessen verrücke ich Tische. Ein schwerer Tisch. Ich versuche meine Gedanken daran festzuklammern, doch sie rutschen ab, sie gleiten einfach hindurch, finden keinen Halt. Der Tisch beginnt sich aufzulösen. Ich versuchen ihn zu halten, vergeblich. Will ihn verfolgen, doch unsichtbare Gummibänder halten mich zurück, elastisch zwar aber wirksam.

Immer noch wabern diese Nebel um mich herum – oder nur um mein Gehirn?
Meine Gedanken drehen sich im Kreis, sie kreisen um mein Problem, um die einzig wichtige Frage – bin ich?

Bin ich? Welche Frage, wer sonst lässt meine Gedanken kreisen. Oder?  Die Gedanken kreisen und ich finde keinen Ausweg aus diesem Kreis.

Wirre Schleierwolken wälzen sich vor meinen Augen – da war ich doch schon mal. Der Kreis schließt sich.
Der Kreis schließt sich! Immer schneller kreisen die Gedanken um immer wieder die gleichen Fragen:
Sehe ich? – wer bin ich? – wo bin ich? – was bin ich? ---------- bin ich?
Sie kreisen immer wieder, immer schneller, immer rücksichtsloser, Hindernisse werden plattgewalzt.

Platt! Irgend so ein Nebengedanke schleicht sich ein. Verschwinde! Du störst meinen Kreis, verschwinde sonst macht er dich platt!
Aber er lässt sich nicht vertreiben.
Wer hat dich eigentlich platt gemacht?
Platt machen, Luft raus lassen, aus Menschen? Bin ich platt? Ohne Luft? –
platt-ge-macht?
Was soll das, worüber denkst du nach? Denkst du?
Wieso denkst du? Du bist platt – na und! Will dich irgendwer flicken und aufpumpen? Lass das, verschwinde und lass mich weiter im Kreis denken.

Wo war ich? Das ist gemein, jetzt bin ich raus, ich finde die Tür in meinen Kreis nicht mehr, warum darf ich nicht mehr in meinen Kreis?
Platt machen – in meinem Hirn dreht sich jetzt alles um dieses platt machen. Stöpsel rausziehen, Ventil aufdrehen, Loch rein stechen – platt machen.
Was passiert da, warum darf ich nicht mehr in meinen quälenden aber doch so bequemen Kreis zurück?
Eine Faust blendet sich ein. Da bist du platt. Dann Stiefel, derbe Stiefel, Neandertaler in Stiefeln mit Keule. Dann nur noch Stiefel, den Stiefel! Er reicht bis zur Wade, schwarz mit silberfarbenen Ösen. Ich sehe die Nähte, das Profil der Sohle – deutlich, wie ein Foto.
Ich könnte den Stiefel zeichnen – aber ohne Hände? Ich könnte ihn beschreiben – aber - ohne Sprache?
Jede Einzelheit, jede Schramme an diesem Stiefel könnte ich – könnte ich, wenn ich könnte.
Hat der mich platt gemacht? Die Luft aus mir raus gelassen? Mein Gehirn in dieses wabernde Becken verpflanzt?
Platt gemacht!
Ich will zurück in meinen Kreis, will lieber meinen Körper erforschen als diesen Stiefel!
Aber ich darf nicht, ich werde wieder platt gemacht, platt gemacht von diesem Neandertaler. Ich sehe die Keule, sie kommt auf mich zu – aber ich spüre sie nicht, spüre nichts. Aber hören kann ich - ein knirschendes Krachen. Ich sehe die Keule – also muss da doch noch ein Auge dabei sein, oder dabei gewesen sein? Aber jetzt? Waber, waber.

Der so bequeme Kreis bleibt mir verwehrt, aber ein neues Signal dringt in mein Gehirn ein – unaufhaltsam – Schmerz!
Wie kann etwas schmerzen was nicht ist?
Wir sollten ihn zurück holen.“
„Einverstanden, gleich morgen früh.“
Was war das? Meine ganze Kraft hatte ich auf die Augen gerichtet und jetzt liefern mir die Ohren ein erstes Signal von draußen. Zurückholen? Ich will nicht zurück!
Zurück, da sind die Neandertaler mit den hohen Stiefeln und – der Keule!
Alles in meinem Gehirn wehrt sich dagegen – „NEIN“!
„Du, der ist wach! Der hat eben ‚nein‘ gesagt, laut und deutlich nein.“
„Du spinnst, der liegt im Koma – tief und fest! ‚Nein‘ sagen kann der nicht, nicht in diesem Zustand. Lassen wir ihm noch diese Nacht Zeit, sein Körper muss sich erholen.“
Zeit, Körper? Der Nebel wird wieder dichter – waber, waber.
„Er kommt zu sich!“
„Hallo Herr Braun, Herr Braun verstehen sie mich?“
Erst kämpfe ich gegen den verdammten Nebel an und jetzt auch noch gegen diese drängende Stimme.
Ich will den Nebel festhalten, will mich in ihn einhüllen, mich unsichtbar machen. Doch gnadenlos reißen sie den Nebel aus meinem Gehirn.
Schutzlos!
Schmerzen!
Langsam erfasst es mein Gehirn, es wohnt immer noch in einem Körper und der tut saumäßig weh!

„Er ist wach!“
„Wie fühlen sie sich, Herr Braun?“
Womit soll ich antworten, ich habe doch keinen Körper.
Mein Mund weiß es besser, er sagt: „Schlecht, Schmerzen, Wo bin ich?“
War das mein Mund? Wie kommt der dazu, ohne mein Zutun zu reden?
„Sie sind im Krankenhaus. Wissen sie was ihnen passiert ist?“, nervt mich eine neue fremde Stimme.
„Neandertaler mit Keule, mit Stiefeln und Keule“, lallt mein Mund.
Meine Zunge tastet sich durch ihr angestammtes Revier: Es fühlt sich fremd an, waren da früher nicht mal Zähne?
Früher, ja früher – vor den Neandertalern!


        

Leseprobe aus Diamantengier oder Großvaters Vermächtnis von Hans Vanselow

… Am gleichen Abend noch, als Bernd alleine war, jonglierte er eine Trittleiter vor das Bücherregal. Mühsam erklomm er mit seinem lädierten Bein die Aufstiegshilfe, kramte das alte Büchlein hervor und brachte es zu den Schriftproben auf seinem Schreibtisch. Nachdem er es sich dort gemütlich gemacht hatte jedenfalls soweit es sein Gipsbein zuließ, schlug er es auf.Immerhin konnte er schon die erste Seite entziffern oder besser, er konnte sich den Text zusammenreimen:
Dieses Tagebuch enthält die Erlebnisse von Johann Friedrich Harms aus Emden/Ostfriesland, Steuermann auf der Dreimastbark ‚Juwel‘, aus den Jahren 1870 bis 1871, niedergeschrieben von Pfarrer John Smith, Seelsorger des zum Tode durch den Strang verurteilen Johann.
Das war ja schon mal starker Toback, zum Tode verurteilt! Jetzt war seine Neugier geweckt. Interessiert begann er in dem Tagebuch zu lesen:
... An mehreren Tagen wiederholt sich die Fahrt und ich bin inzwischen sicher, wodurch der Wasserstrudel an der Klippe verursacht wird. Fiberhaft suche ich nach einem Grund, um mich alleine dieser Gegend zu nähern? Kapitän Friers würde doch sofort misstrauisch werden, sobald er das Ziel meines Exkurses bemerken würde. Dann habe ich eine Idee. Ich war ein guter Schwimmer und hatte auch leidlich tauchen gelernt. Wenn ich nun vorgeben würde, mir dort einige Möweneier holen zu wollen, und die Fahrt zeitlich so einrichten würde, dass ich bei Hochwasser dort ankäme würde Friers wohl keinen Verdacht schöpfen. So war es auch. Er erklärt mich zwar für verrückt als ich ihm von meinem Möweneier-Appetit vorschwärme, hat aber nichts dagegen, dass ich mich damit versorgen würde. Nun muss ich wohl oder übel die Vögel um ein paar ihrer Eier berauben. Die Klippen waren von ihrem Unrat überzogen und bildeten eine eklig stinkende Masse. Die Biester waren alles andere als erbaut davon, dass da einer in ihren Lebensraum eindrang und so entging ich einigemal nur haarscharf ihren Schnabel-Attacken. Ich berge etwa fünfzehn Eier in meinem Boot, das ich an einem Felsen angebunden hatte. Jetzt ist es an der Zeit, den Grund des Wasserwirbels näher zu untersuchen. Gut, dass gleichzeitig mein Anzug von dem stinkenden Guano befreit wird. sonst wäre ich wohl in nächster Zeit auf dem Schiff sehr einsam gewesen. Vorsichtig tastet ich mich unter Wasser an den Felsen heran. Da der Ausgleichsstrom jetzt in die andere Richtung zieht, ist die Strömung an der Stelle wo ich die Höhle vermute bei weitem nicht so stark wie bei Ebbe. Ohne Probleme finde ich ein fast kreisförmiges Loch von einem guten Meter Durchmesser im Felsen, dessen Oberkante circa eineinhalb Meter unter der Wasseroberfläche liegt. Soll ich es wagen? Ich hole an der Oberfläche noch mal tief Luft und tauchte in die Höhle hinein. Nur wenige Meter, dann berühre ich die Felswand. Nach vorne und zur Seite ist alles zu, aber nach oben geht es weiter. Vorher muss ich aber nochmal raus und Luft holen. Kaum richte ich mich nach oben durchbreche ich in der stockdunklen Höhle die Wasseroberfläche. Luft, es gibt sogar Luft hier drinnen. Sie schmeckt irgendwie anders, muffig, aber sie ist atembar. Nach ein paar Minuten haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und das durch das Wasser dringende fluoreszierende Licht erlaubt mir eine begrenzte Orientierung. Ich drücke mich aus dem Wasser und setze mich an den Rand des Zugangs. Mit den Fingern taste ich in dem lehm- oder tonartigen feuchten Matsch um mich herum nach Steinchen, die ich werfen will, um ein Gefühl für die Ausmaße der Höhle zu bekommen. Das feuchtweiche Material ist durchsetzt von festen Teilchen. Einige fühlten sich an wie Krümel von trockenem Brot, andere wie Splitter eines spröden Gesteins von der Größe eines Daumennagels. Ich werfe demnach ein paar Steinchen und lausche auf deren Aufprall. In allen Richtungen könnten es noch drei, höchstens vier Meter weiter gehen. Es scheint sich also um eine Art Blase in dem Fels zu handeln, in deren Zentrum von unten her der Zugang liegt. Einer Eingebung folgend suche ich mir ein paar der größeren Steine und stopfe mir damit die Hosentasche voll. Ohne mich weiter aufzuhalten rudere ich zum Schiff zurück. Klar fällt denen auf, dass ich tropfnass dort ankomme, doch meine Erklärung und die stinkenden Überreste auf meinem Anzug überzeugen selbst den Kapitän. Erst als ich alleine in meiner Koje liege untersuche ich die bis zu taubeneiergroßen Brocken näher. Von der schützenden Tonschicht befreit bricht sich das Licht der Kerze vielfältig an deren glasklarer Oberfläche. Die Kanten sind messerscharf. Zur Probe versuche ich, damit einen Kratzer in den Stahl meines Messers zu ritzen: Ohne Probleme. Kein Zweifel, ich habe in der Höhle Diamanten gefunden. ...
 … ca. 130 Jahre später
...  Entdeckt?
Nachdem die drei getaucht waren hatte Hinrich jeweils ein paar Minuten Zeit um mit dem Fernglas die Kimm nach möglichen Fahrzeugen abzusuchen. Kaum war das Wasser wieder über den Tauchern zusammen geschlagen hatte er das Glas vor den Augen. Ruhig tastete er Sektor um Sektor ab, nichts, die Kimm war sauber. Jetzt ließ er den Haken hinunter um wenige Minuten später die ersten fünf Säckchen, von denen jedes etwa 20 Liter Sand fasste, an Bord zu holen. Kaum war der Haken unten erhielt er wieder das Signal: „Hoch.“ Wieder hingen fünf Beutel am Haken, genauso wie gleich darauf beim dritten Fischzug, wie er die Aktion inzwischen nannte. Eben als er eines der Säckchen zur Seite stellte, glitzerte etwas hell im Sonnenlicht. Neugierig tastete er danach und hielt ein walnussgroßes in einem klaren und doch intensiven Gelb strahlend, erstmals die Sonne begrüßendes Kohlenstoff-Nugget in seiner Hand - und murmelte: „Das ist der helle Wahnsinn, das Ding hier ist bestimmt mehr Wert als der Kutter auf dem ich jetzt stehe.“
Der Haken war wieder unten angekommen und weiter sinnierend griff Hinrich wieder zum Fernglas: „Was nützt der Wert eines Gegenstandes, wenn er nicht realisiert werden kann. Wenn uns jetzt der Kahn hier absäuft, hilft uns dieser Stein absolut nichts, im Gegenteil, er zieht uns noch schneller ins Verderben. Erst dort, wo Menschen bereit sind, diesem Stein einen Wert zuzumessen, erst dort wird er zum Schatz.“
Er hielt in seinen philosophischen Betrachtungen inne, denn ein kurzes Aufblinken am Horizont erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Möwe, nein größer, ein Albatros - nein, der Punkt entwickelte sich zu einem Flugzeug. Es war eine kleine, vermutlich einmotorige Maschine die mit Schwimmern ausgestattet war. Sie kam nicht näher. Offenbar hatte sich das Sonnenlicht auf einer Scheibe oder einem Metallgegenstand gespiegelt. Mit bloßem Auge hätte er sie sonst vermutlich gar nicht gesehen. Sie zog eine große Schleife und flog in die Richtung ab, aus der sie gekommen zu sein schien. Im gleichen Augenblick gab er das vereinbarte Signal um die Taucher zu informieren und hochzuholen. Bevor er die Winde wieder einholte legte er den gelben Stein in die Schublade mit den aktuellen Navigationsunterlagen. Eben tauchte der Schäkel wieder auf, sie hatten einiges drangehängt: Drei volle Säckchen, den kleinen Anker der als Werkzeug sonst immer unten geblieben war, die Scooter und zwei Brechstangen. Kaum hatte er die Sachen verstaut tauchten die drei auch schon auf.
„Was ist los Hinrich, ein Schiff?“ „Nein, ein Flugzeug, eine kleine einmotorige Maschine tauchte knapp über der Kimm auf, wendete und verschwand wieder.“„Bist du sicher, dass es kein Vogel war?“„Absolut, wenn ich nicht ganz sicher gewesen wäre, hätte ich euch bestimmt noch die restlichen zehn Minuten unten gelassen.“
An Bord entschied Bernd: „Es ist nichts weltbewegendes mehr unten. Eigentlich tue ich es nicht gerne, aber in Anbetracht der Bedrohung finde ich, sollten wir den restlichen Kram lassen wo er ist und hier abhauen.“…
 

... Plötzlich schrie Bernd und die Panik brachte seine Stimme zum kreischen: „Ja sind die denn von Sinnen, die steuern direkt auf uns zu! Hinrich!“, brüllte er warnend, „Hinrich die wollen uns rammen!“Wie gebannt starrten Bernd, Werner und Jasmin auf den Bug des gegnerischen Schiffes, der immer mehr zu einem Monster anzuwachsen schien. Einzig Hinrich hatte nur einen kurzen Blick über seine Schulter geworfen. Welche Möglichkeiten blieben ihm, einem Stoß auszuweichen. Sie würden den Kutter im vorderen Drittel erwischen, so hatten die ihren Kurs angelegt. Würde er versuchen, seitlich auszubrechen, würden die ihnen vermutlich direkt ins Ruderhaus krachen, vielleicht wäre das noch die humanste Art, das Ende herbei zu führen, denn es ersparte ihnen einen langen aber sicher vergeblichen Überlebenskampf im Wasser. Aber sollte er sie auf diese Art opfern? Nein, Hinrich entschied sich zu einem überraschenden Coup. Er entschied sich zu einem Manöver, das bei diesem Orkan, bei diesem Seegang fast schon Selbstmord war, er gab den Maschinenbefehl äußerste Kraft zurück! Er versuchte, seinen Kutter zu stoppen und so den Stoß zu vermeiden. Mit jedem anderen Schiff hätte dieses Manöver keinen Sinn, denn so schnell bringt man ein normales Schiff nicht zum stehen. Nicht jedoch diese Art von Kutter. Sie waren gebaut um beim Fischfang schnelle Kursänderungen auf engstem Raum zu ermöglichen. Doch in diesem Falle lieferte er sich und sein Schiff dadurch den fast ebenso gnadenlosen Naturgewalten aus, denn ohne Fahrt im Schiff war es manövrierunfähig und damit ein Spielball der Wellen.
Das gegnerische Schiff baute sich drohend wie ein unüberwindbarer Wall über ihnen auf, wie ein Ungeheuer, bereit ihnen den Todesstoß zu versetzen. Jede Unebenheit der Bordwand, Nietenköpfe, jeden Fetzen abgeplatzter Farbe konnten sie überdeutlich wahrnehmen, ja sie brannten sich unauslöschbar in ihr Gedächtnis ein. Jetzt! Jetzt fuhr der Bug wie der Hammer eines Schmiedes unbarmherzig auf sie herab, die Gewalt der Welle zusätzlich zur Beschleunigung nutzend. Gleich musste der Zusammenstoß erfolgen. Wie kalt ist eigentlich das Wasser da draußen, wie lange kann man darin überleben und wie verhalten sich die Haie? Der Atem stockte ihnen, dabei war die Luft doch das kostbarste was die Natur ihnen schenkte. Noch hatten sie Luft in Hülle und Fülle um sich herum, würde es beim nächsten Atemzug immer noch so sein? ...